Wenn die eigene Website das Tool entlarvt

Durch KI jede Website in Sekundenschnelle WCAG-konform machen: Das versprechen zahlreiche Anbieter. Halten diese Tools, was sie versprechen? Wir werfen einen kritischen Blick auf die Anbieter solcher automatisierten Accessibility-«Lösungen».

Der Markt für KI-basierte Accessibility-Tools boomt. Wir erhalten immer wieder Werbung von Unternehmen, die versprechen, mit ihrem KI-Tool jede Website WCAG-konform – also barrierefrei – zu machen. Der European Accessibility Act (EAA) verstärkt diese Entwicklung zusätzlich: Plötzlich entdecken viele ihre Liebe zur digitalen Barrierefreiheit.

Doch ein genauer Blick auf die Website solcher Anbieter ist oftmals direkt entlarvend: Sie scheitern regelmässig nur schon daran, ihre eigene Website barrierefrei zu gestalten. Aber, wenn ihr angepriesenes Tool das doch automatisiert können soll, wieso klappt es dann nicht bei ihrem eigenen System? Das ist nicht nur ironisch, sondern zeigt unmittelbar den himmelweiten Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf.

Fehlendes Verständnis für digitale Barrierefreiheit

Diese Widersprüche sind kein Versehen. Sie widerspiegeln zum einen ein fundamental unzureichendes Verständnis der Anforderungen der digitalen Barrierefreiheit, zum anderen entwickeln viele Anbieter ihre Tools offenbar ohne Input der Accessibility Community, die sie (angeblich) unterstützen wollen. Von dieser bekämen sie mit überschaubarem Aufwand direkt die Information, was alles nicht klappt. Das Ergebnis sind Lösungen, die sehr viel versprechen, in der Praxis aber versagen. Oder anders gesagt: Diese Anbieter wittern eine Geschäftsmöglichkeit und sehen eine grosse Nachfrage nach schnellen Lösungen. Viele Unternehmen haben das Thema Barrierefreiheit viel zu lange ignoriert und suchen nun nach einer schnellen Lösung. Da der EAA-Druck einen lukrativen Markt schafft, springen viele Unternehmen auf den Zug auf, ohne ein ausreichendes Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. Die Anbieter solcher Tools wissen um die Torschlusspanik ihrer potentiellen Kundschaft und werfen wenig ausgereifte Lösungen auf den Markt, um ebenfalls ein Stück des Kuchens abzukriegen. Sie verkaufen ein Produkt, das das Gewissen ihrer Kund:innen beruhigt – und vergessen dabei die Menschen mit Behinderungen.

Um die Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität zu veranschaulichen, haben wir exemplarisch eine Website eines Accessibility-Tool-Anbieters getestet, der uns kürzlich per E-Mail kontaktiert hat.

Anbieter-Website erfüllt nicht einmal Basisanforderungen

Das Unternehmen bewirbt eine KI-gestützte Plattform, die Websites scannt, Compliance-Lücken bis auf Code-Ebene identifiziert und detaillierte EAA-konforme Berichte erstellt. Versprochen wird nichts weniger als das «sofortige Detektieren und Beheben» von Accessibility-Problemen.

Die Analyse der Website des Anbieters zeigt jedoch eine ganze Reihe kritischer WCAG-Verstösse, wie zum Beispiel:

  • fehlerhafte Alternativtexte für komplexe Grafiken;
  • ungenügende Kontraste;
  • fehlende Sprunglinks;
  • semantische HTML-Fehler, wie z.B. eine Navigation, die nicht als Liste codiert ist oder eine fehlerhafte Überschriftenstruktur;
  • Texte, die nicht korrekt in die HTML-Struktur sondern nur in <div>-Tags eingebettet sind;
  • fehlende Formularlabels sowie
  • gleichlautende Linktexte.

Die Liste ist nicht vollständig, zeigt aber auf, dass diese Website für Menschen mit Behinderungen erschwert oder gar nicht nutzbar ist. Unbrauchbare Alternativtexte bedeuten, dass blinde Nutzer:innen wichtige Informationen in Grafiken nicht erfassen können. Ungenügende Kontraste machen Inhalte für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen praktisch unleserlich. Ohne Sprunglinks müssen Tastatur-Nutzer:innen per Tabulatortaste mühsam durch die gesamte Navigation «tabben», bevor sie zum eigentlichen Inhalt gelangen. Fehlerhafte semantische Strukturen zerstören die logische Orientierung, die Nutzende von assistierenden Technologien für die Navigation benötigen. Links wie «Mehr erfahren» sind ohne visuellen Kontext völlig unbrauchbar, da sie uninformativ bleiben, und fehlende Formularlabels lassen Nutzer:innen im Unklaren darüber, welche Informationen erwartet werden.

Fragwürdige Beratungskompetenz

Diese Beobachtungen werfen grundsätzliche Fragen auf: Wenn ein Unternehmen seine eigene Website nicht nach den Standards gestalten kann, die es anderen vermitteln möchte, was bedeutet das für die Qualität seiner Beratung oder Tools? Entweder wurde das beworbene System nicht auf der eigenen Website eingesetzt, oder es erkennt die vorhandenen Probleme nicht zuverlässig.

Besonders relevant wird diese Diskrepanz vor dem Hintergrund des European Accessibility Acts. Unternehmen, die WCAG-konform sein müssen, sind auf verlässliche Partner angewiesen. Eine Website, die selbst grundlegende Accessibility-Kriterien nicht erfüllt, kann als Frühwarnsystem für mögliche Schwächen in der Beratungskompetenz dienen.

Tatsächlich ist dieses Beispiel kein Einzelfall und zeigt, wie wichtig es ist, potentielle Partner kritisch zu prüfen. Die eigene Website eines Anbieters ist oft der beste Indikator für dessen praktisches Verständnis von Barrierefreiheit. Organisationen, die vor der Wahl eines Accessibility-Partners stehen, sollten daher nicht nur auf Marketingversprechen vertrauen, sondern auch die praktische Umsetzung bewerten.

Eine gründliche Prüfung der Anbieter-Website – idealerweise mit Menschen mit Behinderungen – kann dabei helfen, echte Expertise von oberflächlichem Marketing zu unterscheiden. Denn letztendlich zählt nicht, was ein Tool verspricht, sondern was es in der Praxis leistet. Und diese Praxis beginnt bei der eigenen Website des Anbieters.

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