Ich sehe was, was du nicht siehst

Normalerweise beklagen sich Blinde wie ich, über alles, was ihnen verborgen bleibt. Ich arbeite als Accessibility-Consultant, ich berate Entwickler in Fragen zur Umsetzung barrierefreier Websites, Applikationen und Apps. Meine tägliche Arbeit und vor allem auch meine Erfahrungen im Alltag hat mich dazu veranlasst, in diesem Beitrag aufzuzeigen, was ich dank barrierefreien Apps alles sehen kann, obwohl ich blind bin.
Blinde Person ertastet mit Blindenstock den Weg. Die Person läuft auf einem Gehweg und läuft auf eine Treppe zu. Im Hintergrund ist eine Strasse mit Autos und Gebäuden.

Das iPhone verfügt über einen eingebauten Screenreader namens Voiceover, der mit verschiedenen Wisch und Tippbewegungen gesteuert wird. Der Screenreader liest somit den Bildschirminhalt vor und ermöglicht das Bedienen des Smartphones. Nur wenn die Apps korrekt programmiert sind, funktioniert dies alles.

Reisen und Orientierung

Gerade beim Reisen und sich orientieren sind sehende Mitmenschen oft klar im Vorteil. Dank Smartphone und Apps kann unser Nachteil des „nicht Sehens“ etwas kompensiert werden.
Da ich oft mit dem Zug reise stehe ich an den Bahnhöfen meist vor dem Problem, dass ich keine Anzeigetafeln lesen kann. Dies ist aber nötig, vor allem wenn man rasch in einen bestimmten Zug einsteigen muss.

SBB

Screenshot der Sbb Mobile App auf Ios.
Die Fahrplanapp ermöglicht das Suchen von Verbindungen mit Gleisangabe für Blinde.

Dank der SBB App, kann ich direkt auf meinem Smartphone die gewünschte Information holen und weiss jederzeit wo mein Zug fährt. Ich kann sogar spontan Routen um planen, oder mir dank GPS Haltestellen in der Nähe anzeigen lassen, falls ich z.B. von Zürich Hauptbahnhof nach Zürich Oerlikon mit dem Tram fahren möchte.
Dank der korrekten Programmierung, kann mir der Screenreader die entsprechenden Informationen ansagen.

Damit dies alles funktioniert, müssen natürlich die Daten immer aktuell und rasch eingepflegt werden.

Wemlin

Screenshot Wemlin auf iPhone.
Die App Wemlin ermöglicht eine rasche Übersicht über das ZVV-Liniennetz.

Um im Stadtnetz die aktuellen Linien, sowie Echtzeitinformationen zu haben, benütze ich für den Zürcher Verkehrsverbund die App Wemlin. Diese zeigt mir basierend auf meinen Standort die nächste Haltestelle und direkt die Linien mit den Abfahrtszeiten in Echtzeit. Gerade bei den oft knappen Anschlusszeiten ist dies eine echte Hilfe, da ich als Blinder die Abfahrtstafeln nicht lesen kann.

Blindsquare

Screenshot der Blindsquare App auf Ios.
Die App Blindsquare sagt fortlaufend was sich in näherer Umgebung befindet.

Nun kommt es vor, dass man zwar oft in einer Strasse vorbeifährt, aber nicht weiss, welche Geschäfte oder Dienstleistungsangebote sich in dieser Strasse befinden.
Sehende Mitmenschen können zu diesem Zweck ganz einfach aus dem Fenster schauen. Für blinde Menschen gibt es dank Smartphone und App fast eine ähnliche Möglichkeit dies zu tun: die kostenpflichtige App heisst Blindsquare und kostet in etwa 12 Schweizer Franken Blindsquare sagt einem aufgrund der GPS- und Kompassdaten des Smartphones Orte in der Nähe an. Zusätzlich wird die Richtung, also z.B. „auf zwölf Uhr“ und die Entfernung angesagt. Die Richtung wird in Uhrzahlen angegeben, weil blinde Menschen wissen, wie ein Zifferblatt aufgebaut ist und sich so besser orientieren können. Wird einem angesagt, dass folgende Objekt befindet sich auf „drei“ so weiss die blinde Person, dass sich das Objekt von ihr ausgesehen 90 Grad nach rechts befindet. Die Daten werden von Foursquare und Openstreetmap eingespeist. Diese App ermöglicht quasi während dem gehen sich ein Bild der aktuellen Umgebung zu machen.
Hat man einen interessanten Ort gefunden, kann man direkt aus Blindsquare eine Navi-App starten und sich dahin navigieren lassen. Blindsquare liefert weiterhin in Echtzeit Informationen zur Bewegungsrichtung und zur Umgebung.

Navigon

Screenshot der Navigon App auf Ios.
gut zugängliche Navigationsapp.

Um nun eine bestimmte Adresse in der Stadt zu finden, verwende ich Navigon. Navigon ist eine kostenpflichtige App, sie kostet in etwa 90 Franken. Sie enthält einen Fussgängermodus, wo die Strassennamen auch angesagt werden. Der Algorithmus ist sehr gut, so dass die Position für GPS-Verhältnisse sehr genau bestimmt wird. Oft ist man nicht mehr als zwei bis drei Meter vom Ziel entfernt. Natürlich bietet Sie alle gängigen Funktionen von gewöhnlichen NaviAps an, wie Pois-Suche usw. Die Entwickler haben sich Mühe gegeben, so dass die Bedienung der App sehr gut mit Screenreader möglich ist.

Fazit

Zumindest bei der Orientierung und Reiseplanung kann bereits heute durch Apps vieles von meiner fehlenden Sehkraft kompensiert werden. Mit den Bemühungen um barrierefreie Apps und Angebote, wird sicher immer mehr selbstständig nutzbar.
Im nächsten Teil geht es um Apps, welche ich im Alltag benötige, wenn ich nicht auf reise bin.

4 Kommentare zu “Ich sehe was, was du nicht siehst

  1. Hello Daniele,
    Ich hätte da eine Hand-Aufs-Herz-Frage, vor allem zu den zwei Navigations-Apps. Sie lautet simpel: Wie häufig nutzst du diese denn nun WIRKLICH im Alltag?
    Ich bin ja selbst blinder iPhone User und kann bestätigen, dass die erwähnten Apps theoretisch alle VoiceOver zugänglich sind. Ich habe aber z.B. die erwähnte Navigon App vor kurzem vom iPhone entfernt, da ich merkte, dass ich sie in der Praxis nie einsetzte, weil sie mir zu wenig nützte und nur unnötig Speicherplatz frass (zu Mal das Feature, eine BESTIMMTE Adresse zu finden, nun auch in BlindSquare vorhanden ist).
    Wenn du noch mehr schreiben magst, würde mich dein persönliches Fazit auch etwas detaillierter interessieren: Die Apps kompensieren einen Teil der verlorenen Sehkraft – ja, schon klar. Aber was heisst das genau? Bist du nun effektiv weniger häufig mit Assistenten unterwegs? Fragst du weniger (oder anders) um Hilfe? Fühlst du dich sicherer, integrierter, abenteuerlustiger oder was auch immer? Fände es spannend, deine Meinung dazu zu lesen.

    Viele Grüsse,
    René

  2. Ist es für die Kompass-Funktion und die Richtungsansage eigentlich wichtig bzw. notwendig das iPhone waagrecht in Gehrichtung zu halten oder kann man es einfach in die Jacke stecken. Anders gefragt: bezieht sich die Richtungsansage auf die Haltung des iPhones oder auf die eingeschlagene Gehrichtung?
    Danke schon mal für die Antwort,
    Clemens

  3. Lieber René

    Ich möchte nun versuchen deine Hand-aufs-Herz-Frage zu beantworten:
    Ich nutze Navigon nicht täglich, dies hat aber den Grund, dass ich nicht täglich an neue Adressen navigiert werden muss. Wenn ich aber mal Zeit habe und es schönes Wetter ist, bin ich gerne Unterwegs und versuche möglichst ohne Assistenz ein Geschäft zu finden. Dank solchen Navigations-Apps fühle ich mich sicherer und wage auch solche Abenteuer, da ich eher merke, wenn ich mich verlaufen würde. Es ist vielleicht noch anzumerken, dass ich 1.5% sehe. Ich kann somit Fussgängerstreifen und andere mögliche Abzweigungen meistens auf 1.5 Meter erkennen. Ob das Auffinden einer Adresse mit Navi-App und Stock immer der effektivste Weg ist, ist eine Ermessensfrage. Sicher wage ich so etwas nicht, wenn es auf Anhin klappen soll. Dies Zeigt vielleicht auch auf, dass es noch keinen hundertprozentigen Verlass auf die Apps meinerseits gibt.
    Was das Fragen anbelangt, ja ich denke ich frage Anders. Da ich teilweise dank den Apps gewisse Informationen habe, kann ich auch meine Frage präziser stellen. Gerade am Bahnhof, wenn ich weiss, der Zug nach Bern fährt auf Gleis 12, kann ich auf dem Bahnsteig nur noch fragen, ob dies der Zug nach Bern sei. Hätte ich diese Information nicht, müsste ich fragen, wo der Zug nach Bern fährt.
    Selbst bei Interdiscount kam es vor, dass der Verkäufer mir sagte, dass Gerät hätten sie nicht da, und ich konnte dank App sagen, dass er noch 4 an Lager haben sollte und tatsächlich, er hatte auch noch ein Gerät für mich da. Ein Sehender hätte vielleicht das Gerät noch mit dem Auge zuhinterst auf dem Regal gesehen.
    Was die Integration anbelangt, es gibt sicher Apps, die Integration erhöhen. Ich denke hier z.B. an Zeitungsapps, oder Ibooks. Man hat fast einen gleichwertigen Zugang zu Zeitungen oder Bücher.
    Was ist denn deine Meinung zu den von dir gestellten Fragen?

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