Lehrmittel und Lernunterlagen
Das Studium findet unter dem Flipped Classroom Konzept statt, namentlich bereiten die Studierenden die Theorie bereits zu Hause vor und die Praxis wird dann in der Vorlesung diskutiert. Dafür müssen alle Unterlagen mindestens zwei Wochen vorher online aufgeschaltet werden.
Die Unterlagen sind allerdings selten barrierefrei, manchmal ist es ein Handkommentar oder einfach ein eingescanntes Bild, welches keine OCR-Erkennung durchlaufen hat.
Ich löse diese Problematik damit, dass ich zwei Assistenten habe, welche ebenfalls Jus studieren an der UZH. Diese bereiten mir die Unterlagen barrierefrei vor.
Die Lehrmittel-Liste wird jeweils zwei Wochen vor Semesterbeginn bekanntgegeben; ich erfrage sie allerdings bereits zwei Monate vorher, da die Lehrmittel oft elektronisch nicht verfügbar sind und wenn, dann nur in einem Format, das nicht barrierefrei ist. Es gibt eine Organisation, in welcher ein Team arbeitet, das nur Lehrmittel elektronisch und barrierefrei umsetzt.
Barrierefreie Dokumente
Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, warum Dokumente barrierefrei sein sollten. Einen davon möchte ich an dieser Stelle konkret erläutern:
Tatsache ist, dass in einem Jus-Studium eigentlich nur mit Text gearbeitet wird. Also könnte ich theoretisch mit einem OCR-Tool wie Finereader einen Text einlesen. Das würde alles funktionieren und ich könnte den Text mittels Screenreader lesen. Allerdings ist das Problem hierbei, dass die Formatvorlagen dabei verloren gehen.
Warum sind in Word Formatvorlagen so wichtig?
Ein kleiner Einschub zum Screenreader: Wer in unseren Schulungen dabei war, wird sich erinnern, dass sich ein Screenreader grundsätzlich nur mit Tastenkürzeln steuern lässt. Wenn ich also auf einer Page bin, kann ich mittels der Taste H Überschriften anspringen, mittels L Listen usw. Mit dieser Art von Navigation kann ich ziemlich schnell durch eine Webseite springen. Das funktioniert allerdings nur, wenn auf einer Page eine semantische Struktur gegeben ist. Ohne hier technisch genauer darauf einzugehen, kann man sich Semantik im Web wie Formatvorlagen in Word vorstellen.
Sind also in Word Formatvorlagen gesetzt, kann ich dem Screenreader sagen, er soll seinen Modus ändern und schon kann ich durch ein Worddokument genau so schnell wie im Web springen. Ich kann die Überschriften direkt anspringen, Tabellen usw. Wenn man eine Lektüre von über 800 Seiten hat, dann kann man sich vorstellen, dass reiner Fliesstext (ohne Formatvorlagen) sehr ineffizient ist. Ich müsste den ganzen Text lesen. Mit Formatvorlagen kann ich gezielter Kapitel anspringen oder eben das berühmte «Vorwort» des Autors überspringen 😉 Aus diesem Grund sind barrierefreie Lehrmittel so wichtig!
Infrastruktur, Mensa und Co.
Das folgende, so meine Vermutung, wird auf 95% der Hochschulen zutreffen, unabhängig davon, von welchem Land wir sprechen; vielleicht ist es in den USA oder in England stark anders.
Da ich ein Geniesser bin – wer nicht geniesst, wird ungeniessbar – und ich die Ansicht vertrete, Kaffee müsste man als obligatorische Zufuhr deklarieren, war ich natürlich gespannt darauf, wo die Kaffeemaschine steht. Zu meinem Enttäuschen verschwand die anfängliche Begeisterung relativ schnell wieder: Es gibt zwar eine Kaffeemaschine, diese lässt sich aber non-visuell nicht bedienen. Leider ist die Maschine als Touch Display entwickelt worden. Touch ohne Screenreader ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Blindflug 😉
Ergänzen muss ich aber hier noch folgendes: Die ZHAW ist sich der Kaffeemaschinen-Problematik bewusst, sie haben mich diesbezüglich bereits kontaktiert. Aktuell versucht die ZHAW, neue Lösungen zu finden. Letzte Woche durfte ich beim Testen eines Lösungsvorschlags dabei sein. Über einen QR-Code auf dem Display kann man nun via Handy seine Getränkewahl eingeben. Das funktioniert so weit nicht schlecht, allerdings sind die Produktbezeichnungen noch etwas seltsam, was sie noch anpassen wollen.
Gehe ich zum Essen in die Mensa, bin ich immer auf jemanden angewiesen, der mit mir das Essen holen geht. Es ist eine Art Zusammenstellung von Menüs. So ein ähnliches Konzept gibt es, glaube ich, auch im Migrosrestaurant. Ich persönlich bin kein Fan davon, da ich nicht einfach spontan essen kann. Mich tangiert dies allerdings wenig, da ich relativ selten in der Mensa bin und fast immer auswärts esse.
Man kann auch Sandwiches und Salat kaufen, diese stehen in einem Kühlschrank zur Verfügung. Den Kühlschrank kann man mit der Studentenkarte öffnen. Das Problem ist hier: Die Esswaren haben keinen fest definierten Platz. Einmal sind diese unten und einmal oben. Dieses Problem lässt sich aber auch nicht so einfach lösen. Ein Anfang wäre sicherlich, wenn man hier eine strikte Kühlschrank-Ordnung anlegen würde. Bevor jetzt jemand den Einwand einer App bringt, dies würde durchaus gehen, nur müsste ich ja dann jedes Sandwich oder jeden Salat rausnehmen und mittels App einscannen. Hierfür müsste ich mir einen halben Tag freinehmen. Ich weiss nicht, ob es meinem Arbeitgeber gefallen würde – mir auf jeden Fall nicht 😉
Ein weiteres Problem sind die Müllcontainer. Ihr kennt diese, z.B. am Bahnhof stehen immer mehrere nebeneinander. Jeder Container ist für etwas vorgesehen, PET, Papier oder Alu beispielsweise. Die Müllcontainer sind an der Hochschule schön verteilt, als Sehender sieht man ziemlich schnell, wo man das PET entsorgen muss. Als blinde Person hingegen eher nicht. Es sei denn, du benutzt immer den gleichen. Es wäre ein leichtes, diese zusätzlich mit Punktschrift zu beschriften. Um den Gedankengang zu unterbrechen, der vielleicht jetzt entsteht: «Du könntest sie ja auswendig lernen.» Nein, kann ich nicht. Die Reihenfolge ist nie gleich. Dies wurde von mir auch schon angemerkt.
Die Beschriftungsproblematik findet sich auch in den Räumen. Bevor ein neues Semester anfängt, übe ich den Weg zu den Räumen mit einer O&M Lehrerin. O&M steht hier für Orientierung und Mobilität. Es gibt Lehrer, die dafür ausgebildet sind, blinden Menschen einen Weg beizubringen. Würde man die Räume beschriften, wäre das eine unheimliche Erleichterung. Auch dies ist in meinen Augen nicht all zu komplex. Bei einigen Aufzügen sind die Beschriftungen bereits automatisch dabei. So was würde ich mir bei neuen Häusern grundsätzlich wünschen, dass man überhaupt nicht diskutieren muss, ob man eine Beschriftung auf Punktschrift braucht oder nicht. Sieht der Sehende eine Nummer, so soll sie auch auf Braille verfügbar sein, ganz automatisch.
Etwas, was in meinen Augen überhaupt nicht geht und das kann man guten Gewissens als gravierendes Problem bezeichnen, auch wenn die ZHAW nicht direkt beteiligt ist: Es gibt eine Studentenorganisation, welche Anlässe und dergleichen per Mail allen Studierenden zuschickt. Diese Informationen sind allerdings lediglich als Bild verfügbar. Ich weiss nicht, ob die Verantwortlichen denken, dies sei cool, aber so etwas Schlechtes habe ich in meiner ganzen Karriere als Accessibility-Berater nicht gesehen, zumal die Bilder noch nicht einmal über Alternativtexte verfügen. Die Problematik wurde von mir ebenfalls bereits letzten Herbst angemerkt.
Fazit
Im Grossen und Ganzen fühle ich mich aber an der ZHAW wohl, ich habe eine tolle Klasse, die Dozierenden sind sehr zuvorkommend und die Verantwortlichen des Studiengangs geben sich sehr viel Mühe, dass ich mich wohl fühle. Generell merkt man allerdings schon, dass es in meiner Fakultät vor mir keine blinden Studierende gab. Noch eine kleine Anekdote zum Schluss: Sehende arbeiten sehr visuell, dies dürfte nicht überraschen. Sitze ich dann in der Vorlesung und habe eine intelligente Antwort auf die Frage des Dozenten – ja, tatsächlich habe auch ich hin und wieder intelligente Antworten vorzuweisen – dann schaut mich der Dozent an. Normalerweise ist es so, dass Studierende dann wissen, dass sie sprechen können. Das Problem war in meinem Fall, dass ich das natürlich nicht wusste, bis mir immer mein Klassennachbar gesagt hat, dass ich gemeint werde. Die Dozenten mussten sich umgewöhnen, mich jetzt immer mit Nachnamen anzusprechen, wenn ich gemeint bin.
Ich werde nicht müde, Erfahrungsberichte rund um das Studium zu lesen und merke mir die wichtigen Dinge daraus gerne, um selbst andere Perspektiven anzunehmen und in mein Handeln mit einzubeziehen.
Toll finde ich es, wenn die Hochschulen dieses Feedback ernst nehmen und sogar gemeinsam mit den Betroffenen an Lösungen arbeiten, wie hier im Fall der barrierefreien Bedienung der Kaffeemaschine.
Ich hoffe, dass sich auch die anderen von Mo Sherif angesprochenen Punkte verbessern und dass auch die Gruppe blinder Studierender größer werden kann. Mo geht hier mit einem mutigen Beispiel voran und es muss selbstverständlich werden.