In meiner linken Hand hielt ich also Leo, welcher mich auf dem Weg zum Abstimmungslokal sicher um alle Hindernisse führte. In meiner rechten Hand hielt ich, nebst einem Blindenstock, das Ding, welches mir gleichzeitig Schlüssel und Hindernis zur Abstimmung war: Den Umschlag mit dem «Stimmrechtsausweis» und dem «Stimmzettel», auf welchem ich meine Kreuzchen machen muss… Meine Kreuzchen machen… Aber wie? Da ich nichts sehe, ist das selbstständige Ausfüllen eines vorgedruckten Stimmzettels leider ein Ding der Unmöglichkeit. In den meisten Fällen sind blinde Menschen beim Wahrnehmen ihres politischen Abstimmungsrechtes auf Hilfe angewiesen. Mich nervt dies – vor allem, da heute durchaus die Möglichkeit bestünde, die meisten Hindernisse aus dem Wege zu räumen.
Wie wird in der Schweiz abgestimmt?
In der Schweiz finden rund vier Mal jährlich Abstimmungen statt. Den stimmberechtigten Personen wird zu jedem Termin das nötige Material zugesandt. Abgestimmt werden kann in den meisten Fällen per Post oder persönlich: Im einen Fall muss der unterschriebene Stimmrechtsausweis, gemeinsam mit den ausgefüllten Stimmzetteln, pünktlich eingeschickt werden. Andernfalls ist es möglich, am Wochenende der Abstimmung die nötigen Dokumente persönlich in die Stimmlokale – «an die Urne» – zu bringen. In beiden Fällen muss der Stimmzettel von Hand ausgefüllt werden. Lesen Sie mehr Details über Abstimm- und Wahlverfahren auf ch.ch!
Wo hört die Unabhängigkeit der Blinden auf?
Ich habe, wie viele blinde Menschen, ein elektronisches Vorlese-System zur Verfügung, mit dessen Hilfe es mir möglich ist, die meisten gedruckten Dokumente selbstständig zu lesen. Dazu gehören auch Stimmzettel und Stimmrechtsausweise. Leider kenne ich jedoch kein Hilfsmittel, welches mir erlaubt, die Dokumente selbständig und – wie verlangt – von Hand, auszufüllen. Blinde Menschen sind hier eindeutig auf Hilfe angewiesen, brauchen eine Vertrauensperson, welche die gewünschten Antworten ankreuzt und beim richtigen Setzen der Unterschrift behilflich ist.
Möchte man persönlich abstimmen, kann auch das Auffinden des Stimmlokals einige Schwierigkeiten bereiten. Die Stimmlokale der Stadt Bern etwa (Bern ist zur Zeit mein Zuhause) sind recht knapp auf einer Internetseite zusammen gefasst. Ich entschied mich, meine Stimme am Bahnhof abzugeben, da mir dessen Standort am besten bekannt war. Wo genau sich das Abstimmungslokal im Bahnhof befindet, steht übrigens nicht auf der Seite. Stattdessen findet man die Bemerkung «Zugang ist signalisiert» – und somit schafft es Bern erneut, blinde Menschen von Begleitpersonen abhängig zu machen, welche die «Signalisierung» für sie lesen müssen. Hätte man auf der Info-Seite einfach geschrieben, dass sich das Stimmlokal im Wartesaal befinde, wären mir viele Minuten des mühsamen Herumfragens erspart geblieben.
Die guten Seiten
Über all dem Grübeln, waren Leo und ich beim Stimmlokal angekommen. Und noch bevor ich die Tür des Wartesaals erreicht hatte, wurde ich von einem Herrn angesprochen, der sich mit Namen vorstellte und bemerkte: «sie haben doch auch schon bei uns abgestimmt, oder?»
Stimmt, an diesen Herrn erinnerte ich mich genau. Als ich zum ersten Mal im Bahnhof Bern meine Stimme abgab, informierte er mich, dass er offiziell dazu autorisiert sei, mir beim Ausfüllen meiner Stimmdokumente zu helfen. Da ich aufgrund meiner Behinderung auf Hilfe angewiesen bin (offiziell gehöre ich zur Kategorie der «Schreibunfähigen»), steht diese Methode des «assistierten Abstimmens» offenbar als Alternative, als «Spezialverfahren» zur Verfügung. Auch heute führte mich der Herr an ein Tischchen, wo er mir, mit leicht verhaltenem Ton, den Stimmzettel vorlas, um dann das meinen Antworten entsprechende Feld anzukreuzen – bei mir war es einmal JA und einmal NEIN.
Es überraschte mich positiv, wie einfach dieser Teil des Abstimmens klappte. Zumindest in diesem Stimmlokal schien man vorbereitet und fähig, auf meine Behinderung Rücksicht zu nehmen und die Stimmabgabe so einfach wie möglich zu gestalten.
Übrigens wurde in den letzten Jahren auch der Zugang zu den offiziellen Abstimmungsbotschaften erleichtert. Was für lange Zeit nur in gedruckter Form dem Stimmzettel beilag, kann in vielen Kantonen nun auch als «Hörzeitschrift» bezogen werden. Hinweise zum Bezug der Abstimmungsunterlagen als Hörbuch.
Noch mehr Licht am Ende des Tunnels
Voilà! Ich hatte also von meinem politischen Recht Gebrauch gemacht, trotz meiner Behinderung. Ich hatte, wo nötig, freundliche Hilfe erhalten und brauchte jetzt nur noch zu hoffen, dass der Herr im Wartesaal mein Kreuzchen auch wirklich da platziert hatte, wo ich es haben wollte. Und trotz der angenehmen Assistenz bin ich unzufrieden: Wir hätten heute die Möglichkeit, eine Methode zur Stimmabgabe einzuführen, welche alle Assistenz völlig unnötig machen würde. Warum lebt unser Abstimmungssystem noch immer im 20. Jahrhundert?
Erst vorhin traf ich zu meiner Verblüffung auf eine Swissinfo-Meldung zu den kantonalen Abstimmungen. Ganz unten in der Nachricht wird erwähnt, dass an eben diesem vergangenen Sonntag, im Kanton Genf offiziell das e-Voting als Methode zur Stimmabgabe akzeptiert wurde. Einwohnerinnen und Einwohner dieses Kantons schufen sich somit die Möglichkeit, auf elektronischem Weg ihre Stimme abzugeben – zumindest in der Theorie. Der momentane Stand von e-Voting in der Schweiz zeigt auf, dass wohl noch einige Jahre vergehen müssen, bis ich keinen freundlichen Menschen mehr zuflüstern muss, wo mein Kreuzchen zu platzieren sei.
rächt hesch, rené =) muntsch, tanja
Laut dem aktuellen Artikel aus dem Tagesanzeiger wird es noch ein Jahr länger dauern bis eVoting möglich ist. Das elektronische Abstimmen soll frühestens 2010 möglich sein… aber erst einmal nur für Auslandschweizer!!
PS: Ich bin schon einmal gespannt, wie ich abstimmen werde, wenn nächstes mal die eidgenössischen National- und Ständeratswalen statt finden. Wird mir dann wohl der Betreuer des Stimmlokals sämtliche möglichen Namen vorlesen?… Nur ein Denkanstoss…