Anlässlich der Feier zum 20-Jahr-Jubiläum von «Zugang für alle» sind einige Fragen aufgekommen, die wir hier gerne in einer Reihe öffentlich beantworten.
Zusätzliche Verkaufsargumente für Barrierefreiheit
Frage einer Web-Agentur:
Als Web-Agentur versuchen wir regelmässig, Kunden von der Wichtigkeit von Barrierefreiheit zu überzeugen. Leider oft mit mässigem Erfolg. Welche zusätzlichen Argumente gibt es, wenn die Projektleitung auf die gebräuchlichen Argumente antwortet: «Ja, ich sehe, dass Barrierefreiheit wichtig ist, und dass ein gewisser Prozentsatz an potenziellen Nutzenden potenziell ausgeschlossen wird. Auch sehe ich, dass wir alle irgendwann älter und potenziell behindert sein werden. Aber wir haben für das vorliegende Projekt einfach keine finanziellen Mittel für Barrierefreiheit zur Verfügung.» Welche zusätzlichen Verkaufsargumente könnten wir nutzen?
Antwort von «Zugang für alle»:
Aus unserer Sicht gibt es eine ganze Reihe von Gründen, welche für die Berücksichtigung digitaler Barrierefreiheit sprechen. Zuerst zu nennen ist sicher die Maximierung der User-Gruppe. Das Ziel ist es, dass eine Website, Mobile App oder ein anderes Online-Angebot durch möglichst viele Nutzende bedient werden kann, unabhängig von bestehenden Einschränkungen. Gemäss Bundesamt für Statistik sprechen wir über eine Gruppe von über 20% der Schweizer Bevölkerung, was sicher eine relevante Grösse darstellt.
Zudem betreffen viele Vorkehrungen für gute Barrierefreiheit in bestimmten Nutzungssituationen alle Kundinnen und Kunden: So werden ungenügende Kontraste schnell zum Killer auch für Normalsichtige, sobald sie eine Website oder App auf ihrem Mobile bei strahlendem Sonnenlicht benutzen möchten. Dann kann niemand mehr solche schlecht gestalteten Inhalte wahrnehmen.
Zweitens besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Barrierefreiheit und guter User Experience: barrierefreie Onlinedienste bieten in verschiedener Hinsicht ein allgemein besseres Nutzererlebnis, etwa wenn durchgängige Tastaturbedienbarkeit auch Power-User in Formularen gut unterstützt.
Drittens bietet ein barrierefrei umgesetztes Angebot auch Rechtssicherheit. Barrierefreiheit ist für viele Angebote keinesfalls mehr Kür, sondern Pflicht. So müssen in der Schweiz Websites und sehr bald auch Mobile Apps von Anbietern auf allen Ebenen des Bundesstaats barrierefrei sein. Entsprechend dem Geltungsbereich des eGov-Standards eCH-0059 betrifft dies nicht nur die zentrale Bundesverwaltung, sondern gleichermassen Kantone und Gemeinden, und umfasst auch Angebote etwa von Krankenhäusern und Schulen.
Darüber hinaus wird Barrierefreiheit im Bereich privatwirtschaftlicher Angebote in ausländischen Märkten deutlich stärker eingefordert als in der Schweiz. In bestimmten Märkten ist gar mit Klagen zu rechnen, wenn Angebote nicht barrierefrei sind. Darüber hinaus sind unseres Wissens auch Bestrebungen im Gange, bei der Vergabe von Mitteln bei Sponsoring oder in Förderungsprogrammen die Barrierefreiheit stärker einzufordern; dies als Voraussetzung für den Erhalt solcher Mittel. Spätestens dann kann es sich dramatisch rächen, dass man in der Projektphase auf Einsparungen im Bereich Barrierefreiheit gesetzt hat.
Weitere Argumente für die Berücksichtigung von digitaler Barrierefreiheit sind auch der Image-Gewinn für das Unternehmen sowie ein Risikomanagement, mit dem man vorbeugend eine allzu negative Medienpräsenz verhindert. In den letzten Jahren hat das Bewusstsein in den Medien für das Thema Barrierefreiheit deutlich zugenommen. Es gibt prominente Beispiele von Organisationen, die stark an den Pranger gestellt worden sind für den Relaunch einer Website, der nicht barrierefrei erfolgt ist.
Und schliesslich ist auch klar, dass die geringfügige Kostenvermeidung innerhalb eines Projekts durch Weglassen der zusätzlichen Anforderung Barrierefreiheit eher kurzsichtig ist. Ein Relaunch einer Website oder eine Neuentwicklung einer App stellt nämlich eine Chance dar, das Thema Barrierefreiheit ziemlich kosteneffizient «mitzunehmen». Demgegenüber wird ein späteres Nachrüsten ungleich teurer, wenn der Bedarf aufgrund von veränderten Vorgaben oder Rahmenbedingungen dann doch entsteht.
Und schliesslich ist das Thema Barrierefreiheit auch kein «Alles oder nichts». Selbst bei begrenztem Budget können wichtige Barrieren durch frühzeitiges Einplanen effizient vermieden werden. Und damit kann bereits ein sehr grosser Unterschied für Menschen mit Behinderungen erreicht werden, selbst wenn nicht alle Anforderungen gleich erfüllt werden können.
Besten Dank für diese gute Zusammenstellung. Als langjähriger Webentwickler mit profunder Erfahrung in Barrierefreiheit kann ich folgendes hinzufügen.
Bei Projekten, welche von Beginn an auf Barrierefreiheit setzen, profitiert der erstellte HTML-Code immens, denn die hierbei zu beachtende semantische Logik (Semantik = Bedeutungslehre) funktioniert wie eine Art Leitplanke beim Programmieren. Dies verhilft zu deutlich besser strukturiertem Code, welcher von Team-Kolleg:innen wiederum besser verstanden werden kann.
Diese erhöhte Lesbarkeit führt zu vereinfachter Wartbarkeit des Codes, denn wir Entwickler wissen: eine Zeile Code wird 1x geschrieben, dann aber im Lebenszyklus der Software 10x wieder angepasst. Spätestens hier wird deutlich, warum das Investieren in sauberen Code gewinnbringend ist.
Auch führt das korrekte (sprich: semantisch sinnvolle) Verwenden von HTML zur Bevorzugung von Browser-Standard-Verhalten, anstelle von benutzerspezifischen, oft «hemdsärmelig» programmierten Funktionalitäten. Dies führt nicht nur zu deutlich weniger, sondern wiederum zu einfacher lesbarem und wartbarem Code. Zudem erhöht sich die Performance, wie auch die Cross-Browser-Kompatibilität.
Ich behaupte: bereits mittelfristig zahlen sich Aufwände, welche für Barrierefreiheit getätigt werden, wieder aus, da die Gesamtqualität der Code-Basis enorm profitiert. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Barrierefreiheit von Beginn an berücksichtigt wird in einem Projekt. Ist das entsprechende Wissen nicht oder nur teilweise vorhanden, ist es also unerlässlich, den Rat erfahrener Experten beizuziehen.